Michel Serres in seinem Buch “Der Parasit” über sehr vieles, aber auch über Rousseau als Notenkopist (übersetzt von Michael Bischoff):
“Im Ablauf des täglichen Lebens, wie er es uns hier bekennt, kommen und gehen die parasitären Eingriffe. Einladungen von hier und dort, Einladungen bei der Marquise und beim Vikar, beim Löwen, beim Herrn und bei der Ratte, hinterlistige Verzweigungen, hastige Diebstähle, kleine Geräusche, plötzlich, aber ernstlich für diesmal, fällt die Feder mir aus der Hand. Die kleinen Geräusche, die Unterbrechungen wachsen sich zur Krise, zur Katastrophe aus. Die Decke fällt auf meinen Tisch. Die Wasser der Sintflut ertränken das Tal. Knarren, Geräusche, Chaos. …
… Außerhalb des Saales Simonides. Jenseits der Flut die beiden alten, baumgleich verästelten Wirte. Sie hören das Getöse, sie sind Freunde der Götter. Oder umgekehrt, die Katastrophe ist Pfingsten, der Dritte ist alleine draußen, er bringt den Wind und den Ton herbei. Jean-Jaques allein ist draußen, er sieht die Schatten, er hört das Chaos und das Tohuwabohu. Der Sieg gehört dem Rauschen.
Ich spreche in mehreren Stimmen. Von Rousseau, Werk und Leben, Weg und Abschluss; von allem, was den Festmählern dieses Buches vorangeht; von der Apostelgeschichte und den griechisch-lateinischen Erzählungen; von der Wiederholung mitten im Orchester bei Fellini; ich spreche meinen Text aus parallelen Bildern und Tönen. Man muss von vorn beginnen, mitten in jenem mit Trümmern übersäten Raum, in der unruhigen Dunkelheit, unter den Toten und Lebenden und unter der drohenden Gefahr des Lärms, der gewiss sehr bald zurückkehren wird. Das Rauschen wird sich bis zu Donner und Getöse steigern. Die Flut der Missbrauchsbeziehung kommt nicht zum Stillstand. Der einfach Pfeil nimmt seinen Lauf, er hat keine Bremsen. Bis zu einer Schwelle, wo der Lärm, der Missbrauch oder der Pfeil nicht mehr erträglich sind. Simonides steht vor den Toten, Philemon vor der Flut, Rousseau vor der Nacht, der Dritte außerhalb des geschlossenen Saals. Was tun?
Was uns entzweit und unterbricht, wer da unser Brot isst und unsere Botschaften stört, das ist der Parasit. Der Gast wird zum Herrn, und er macht einen fürchterlichen Lärm. Und da sind wir, ich bin dieser Gast. Von ihm muss man ausgehen, vom Lärm, von mir. Wer bin ich? Der Parasit. Und ich bin draußen, allein, mitten auf der Insel und mitten in der Nacht. Hören Sie. Öffnen Sie die Ohren. Die Worte lassen die Lösung hören. Folgen Sie den Worten. Der Parasit entzweit, er macht Lärm. Ich bin eine Partitur. Ich bin allein, isoliert, einsam, disjunkt. Allein ohne jede Beziehung oder mit einer Beziehung ausgestattet, die zu mir selbst zurückführt und die Botschaften stört. Von nun an bin ich eine Ausnahme für die Untersuchung, der ich mich unterziehe. Ich bin eine Ausnahme vom Wir, und das macht dieses Wir unmöglich. Diese Ausnahme ist aber universell. Was stellt nun den Gleichklang zwischen uns her? Folgen Sie dem Wort, dem Ton, dem Wind: Gleichklang.
Keine Theorie, bitte. Noten. Folgen Sie den Noten. Die Musik rettet uns, und die Noten retten uns. Die Noten beruhigen uns, und die Musik beruhigt. Halten Sie sich an die Noten, folgen Sie ihnen. Ihnen allein. Dem Gleichklang.
Gleichklang. Über welchen Gegenstand, welches Thema? Später, später. Aber zumindest über eine Bedeutung. Später, habe ich gesagt. Vor allem anderen über den Ton selbst. Wenn du nicht zuviel Lärm machst, werde ich versuchen, den meinen abzustellen; wenn ich richtig klinge, wirst du dich hin zu diesem friedlichen rechten Klang entwickeln. Bevor man ein einziges Wort austauscht, bevor man sich über den Code einigt, muss man wenigstens einen gemeinsamen Ton aussenden. Hier kann man zur selben Zeit aussenden und empfangen. Ja, mein Signal ist allein in der Welt, und meine Stimme ruft in der Wüste, in der Steinwpste meiner Schreie. Es sind besondere, individuierte Steine. Schaffen wir diese parasitären Steine beiseite; wenn wir diese Lautstacheln abhobeln, werden wir uns einander nähern. Der klingende und musikalische Akkord ist der archaische Gleichklang der Vereinigungen. Gemeinsamkeit. Schwingung in mehreren Stimmen. Freude. Das Kollektiv ist zum Mindesten ein Klangutopie. Hermes erfordert Übersetzungen. Das Pfingstfest singt, tönt und weht, die Zungen gründen in diesem Feuer, die Musik hat in Zungen gesprochen. Sie ist frei von Parasiten, die Universalsprache eines verborgenen Vertrages.
Wie ein ausgehungerter Gast sich am Buffet eines Festmahls berauscht, wacht Jean-Jacques über die Musik. In ihr liegt, offen und verhüllt, die Lösung. Diese Lösung schließt ihn ein und schließt ihn aus, sie schließt ihn ein als Partitur, sie schließt ihn aus als Parasiten. Wer bin ich? Die Voraussetzung der Musik, des Gleichklangs, und deren Verhinderung.
Er kopiert sie, bewahrt, bewacht und gibt sie. Er tauscht sie aus und verkauft sei. Er wusste stets eine Antwort auf seine Frage: Nicht in dem, was er sagt, sondern in dem, was er tut, und dieses Tun ist weit klarer als das Licht der Begriffe, es ist weit verständlicher als die hölzerne Sprache der Philosophie.
Und in dem, was er tut, wenn er etwas sagt.
Wenn je eine Feder auf der weißen Stille des liebkosten Blatte sein Schauern, ein Auffliegen hinterließ, wenn jemals einer die himmlischen Stimmen und das Getöse der Hölle vernahm, um es solcherart aufzuschreiben, so wurde der zum Wächter über diese Musik. Von Parasiten gereinigt, rein, rein, gereinigt vons ich selbst, absolut gereinigt von mir. Je mehr ich schreibe, desto weniger bin ich. Und endlich von diesem Lärm befreit.
Jede Linie entfernt sich, rettet sich vom zufälligen Vorrücken des Tohuwabohu, von der Lava der Vulkane, von den Rissen, welche die Erde zerreißen, wenn sie bebt; die fliegt über die Orkane hinauf, sie beruhigt die brüllenden Tiere, die Jaguare, die ausgehungerten Wölfe, die entreißt die Geliebte der Hölle, sie nähert sich mutig dem Getöse, bietet dem Lärm die Stirn, und ein Akkord erklingt, und kein einfacher, einfältiger, naiver, der stets wieder aufgenommen würde oder im gleichen Takt dahintriebe, sondern ein Akkord, der in jedem Takt aufs neue und ausdauernd von Unordnung und Unerwartetem genährt wird und sich sanft an den Grenzen, am Rande niederlässt, wo das reine Kristall der Quellen zwischen dir und mir fließt; tanzen wir in der Erwartung, dass die Tiere sich erfrischen komemn. Die Sprache schafft unterhalb der Bedeutung Gleichklang zwischen uns, und die Bedeutung entzweit uns oft.
Schreiben Sie wie er über die Verteilung eines Kartenspiels, über den schwarzen und dunklen Rücken der Gesichter des Zufalls, schreiben Sie über das Diesseits-jenseits, das Sie den anderen zeigen, indem Sie ihr Spiel und Ihre Partitur verbergen; hören Sie nicht auf, jenseits des Zufalls, der Unordnung und des Lärm, jenseits Ihrer eigenen Umstände und auf deren Fleisch eine kleine Musik-Harmonie für den anderen und mit ihm zu schreiben.”
Aus Michel Serres: Der Parasit (übersetzt von Michael Bischoff)