Thema (Christian Steinbacher)

(Thema x A)

ABWEICHEND GÜNSTIGST ZUGESPITZT

unbändig abgelassen uneins
zuhauf rund unumschränkt
griffig frisch eingenickt
hellauf geknickt
echt fast überhöht phosphatfrei
pigmentiert synthetisch quer
offen halb
fügsam aufgebracht sehr
mehr merkwürdig hügelfrei
gerippt x-fach verbeult
bunt töricht entleert
befangen himmelblau klar

+

(Thema x B)

GESAGT GETREU EINHER

Der Riss bestach wie jeder Riss,
Synthetik heißt die Zeitdevise,
ein jeder Bruch wird eingebunden und
so hebt er ab
aber der Wipfel da tropft noch
in den Scharen von Soßen

[beide Gedichte aus der Sammlung
„der wandel motzt“, 2000]

Nihilum album

Eine Liedertafel mit Oswald Egger

“Das Wesen des Gedichts ist Gesang, nicht Gemälde, aber wer so redet (Herder), spricht – vom Volkslied. »Es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen« (Celan), doch auch jenseits ihrer Sperenzchen? Kommt im alten Lied das verhaltene, was sich versagt und bleibt im Gedicht, zu Tage, als Tagelied ans Licht? Und was sind das für Worte, die wie Blumen tun, tausendschön, so ohne Erde und Terrain, nur aus der Luft gegriffen?
Oswald Egger legt quasi heimatlose Lieder und Gedichte vor, die von dort, woher die Kinder kommen, ins Diesseits kassibern: Zinkblumen ( nihilum album) aus Erde und Rede, Zink, das sich im Glosen und Fokus des Gegenständlichen verliert und wie lichtflüchtige Wollflocken in Luft aufgeht: als »lana philosophica« den Alchemisten und Hermetikern bekannt, woraus »nihilum album«, das »Weißnicht«, »Nichts« und »nicht« entstanden.”

Die Liedertafel empfiehlt als kompositorisches Material die folgenden Gedichte:

Singen, tönern
ist es gut,
Pfoten-Mond
lebendere Blitze.

*

Ich denk
und stimme
Ribisl-
Lieder an.

*

Zum Aufspringen
und Tanzen will ich,
daß alle Bohlen
Eichholz sind.

*

Perchten
im Krapp-Sack
Beutel-Puppen
ihr Schuhzeug?

*
Die Ahlkirschen-
reiche Ahlkirschwiese
ist gefährlich, Beeren-
heide, plumbs, plumbs

*

Ich saß
eine knöcherne Woche,
und ich saß
eine fleischige Woche.

*

Die
Waldbellerhunde,
die Wildbellerhunde
kläffen den Mond an.

*

Trinktücher-Kelche,
flüsternde Gruppen
stehen in den Fall-
Gassen der Würfler.

*

Manchmal klack’t ein
Ast im Takt gegen das
Balkendach der Schlag-
Blockhütte Einlaß.

*

Nicht mir
zum Schlimmen
erhoben sich
die Stimmen.

(AUS: NIHILUM ALBUM, Lieder & Gedichte, Suhrkamp 2007)

Kompositorische oder akustische Beiträge (für Stimme solo / gesungen, gesprochen /, Zuspielband oder Vokalensemble SATB) bitte an: dramaturgie@sing-akademie.de Dann versuchen wir uns gern an einer Realisierung.

Variation 5 – T 6 (Florian Neuner)

modul 1 (wewelsflether fassung): es werden bessere tage kommen; beschreibung der gelben zone; texte zur zeit

der am stadtrand gelegene häuserblock. am 9. februar 1961. die farbe eines großen teils der bodenfläche. die fröhliche stimmung wird verstärkt. das gebäude ist eine spielzone. die konstruktion ist leicht. die maßen verschwinden vollständig. mitunter steht man plötzlich unter freiem himmel. in diesem stadtteil kann man auf dem luftweg ankommen. in neapel treten die straßenbahner in einen blitzstreik. am abend kommen die arbeiter aus den fabriken. sehen, daß die bahnen nicht fahren, & solidarisieren sich mit den streikenden. mit beweglichen trennwänden werden die etagen in viele räume aufgeteilt. die umgebung wird ständig verändert. dort werden intellektuelle spiele gespielt. im westen das große & das kleine labyrinthhaus. die macht des architektonischen durcheinanders. die zeit beginnt farbe anzunehmen & form. die arbeiter werfen molotowcocktails & zünden busse an. wasserspiele, ein circus, ein großer tanzplatz. herrliche aussicht auf den verkehr auf der autobahn. die labyrinthhäuser bestehen aus vielen zimmern. unregelmäßigen formen, wendeltreppen, verborgenen winkeln. freiem gelände & sackgassen. setzen sich siegreich gegen polizei &feuerwehr durch. dort geht man in die irre.

der »taube saal« ist mit isolierstoff ausgekleidet. das »grelle zimmer« mit lebhaften farben. tausende stürmen in die stadt. mit überwältigenden geräuschen. zerstören schaufenster & beleuchtungskörper. in der nacht wird militär herbeigerufen. panzerfahrzeuge rollen in die stadt. mitunter wird die zeit für einen augenblick sichtbar. radiosender erzeugen echos. im »bilderzimmer« werden filme projiziert. zimmer der überlegung, der ruhe, der erotischen spiele. die revolte beginnt sich auszubreiten. das verweilen in den häusern bewirkt eine heilsame gehirnwäsche. entstehende gewohnheiten werden ausgelöscht. am 4. august gehen bergarbeiter gegen autos vor. eine abwehrhandlung gegen den hauptgegenstand des entfremdeten konsums. die wasserspiele befinden sich zwischen den häusern. an dieser stelle öffnet sich der himmel. die streikenden in liège zerstören die druckmaschinen der tageszeitung. wasserstrahler & brunnen, hecken in seltsamen formen.  zeitebenen werden geschaffen. in einer gläsernen grotte kann beim betrachten der sterne gebadet werden. ein gipfel des bewußtseins der bewegung. ein angriff auf die medien, die sich in den händen ihrer feinde befinden. optische linsen anstelle von fenstern vergrößern den benachbarten häuserblock.

die passage führt zum großen tanzsaal. hier liegt der kritische punkt des konflikts. man kann auch auf den terrassen um die wasserspiele gehen. das nie aufgesprengte schloß, das den zugang des »wilden« arbeitskampfes zur machtperspektive versperrt. das ist eine bezeichnende tatsache. die zeit läuft meßbar/erfahrbar/scheinbar geradlinig & für lange zeit wieder unsichtbar weiter. auf dem weißen platz finden kundgebungen statt. bergleute haben 20 mann für einen hungerstreik delegiert & sich damit auf 20 stars verlassen, die mitleid erregen sollen. die kundgebungen bewegen sich zum grünen platz. die bergleute haben ihren kampf verloren. weil ihre einzige chance darin bestanden hätte, den kampf über ihren eigenen, defizitären sektor hinaus auszudehnen. unter diesem platz findet man öffentliche verkehrsmittel. revolutionäre arbeiter vergessen, daß die vertretung immer auf das notwendigste beschränkt bleiben muß. auf wenige dinge & seltene gelegenheiten. aber die widerstandbewegung gegen die verdummung wird nicht nur von arbeitern geführt. der größte teil muß künstlich beleuchtet werden. der schauspieler n. enthüllte durch eine Zeitungsannonce den täter einer krimiserie im fernsehen. dieser mann hat einen sinnvollen sabotageakt begangen. der ansturm der arbeiterbewegung gegen die gesamte organisation der welt ist schon lange zu ende. die zeit bleibt stehen. klimaanlagen müssen installiert werden.

ein kaum wahrnehmbarer schleier entsteht in den oberen schichten der atmosphäre. der ansturm ist schon lange zu ende. nichts könnte ihn noch einmal zum leben erwecken. nicht ohne großartige ergebnisse erzielt zu haben. auswechselbare & auseinandernehmbare möbelstücke fördern den ständigen wechsel der szenerie. man muß die klassische arbeiterbewegung wieder mit offenen augen studieren lernen. nirgends ist versucht worden, natürliche verhältnisse nachzuahmen. man muß einen klaren kopf bewahren. denn die politischen & pseudo-theoretischen erben haben nur ihre niederlagen geerbt. die tiere verhalten sich ruhig. die fehlschläge sind die bisher aufschlußreichsten erfolge. man muß die ganze wahrheit wiederfinden. sanddünen & steine wachsen. alle oppositionellen strömungen unter den revolutionären. wir müssen diese zeichen verstehen lernen. luftspiegelungen finden statt. es gibt keine andere möglichkeit, die aktionen unserer genossen in der vergangenheit zu verstehen. es sei denn durch eine neuentdeckung der revolution. eine neuentdeckung auf höchstem niveau. warum ist diese neuentdeckung so schwierig? sie ist nicht so schwierig, wenn man von der suche nach der freiheit im alltäglichen leben ausgeht. erfindung von klimaverhältnissen & beleuchtungsverfahren. die aufgabe ist, alles bestehende in frage zu stellen. es entsteht ein seltsames bild. es genügt schon, wenn man die philosophie nicht aufgegeben hat – wie fast alle philosophen. wenn man die kunst nicht aufgegeben hat – wie fast alle künstler. erst dann verknüpfen sich die fragen bis zu ihrer gegenseitigen aufhebung.

Variations sérieuses

Weite Teile der Neuen Musik und der neueren Poesie erscheinen gegenwärtig wie in Reservaten zu entstehen, auf eng umgrenztem, von Festivals und Stipendien geschütztem Gebiet. Die spürbaren Folgen dieser Produktionsbedingungen: eine latente gesellschaftliche Dissoziation, die Tendenz zur Monokultur und das fortgesetzte Nachzirkeln der Fachbereiche.

Dabei gehen viele zeitgenössische Komponisten schon lange der sprachlichen Verfasstheit musikalischer Prozesse nach. Und für viele Autoren ist die musikalische Struktur sprachlicher Vorgänge das zentrale Element ihrer Arbeit. Dennoch werden die Verfahren des jeweils anderen Reservats in nur sehr beschränktem Maß wahrgenommen. Kaum kommt es zu gemeinsamen Arbeiten, die das klassische Modell der postumen Vertonung um womöglich neue Modelle der Sprachkomposition erweitern würden.

Die Liedertafel der Sing-Akademie zu Berlin lädt ein zu einem Ausbruch aus diesen Reservaten.
12 Autoren und Komponisten sind eingeladen zu wechselseitigen „variations sèrieuses“, zwischen Text und Ton. Ein Chor fragt sich gewaltig: wie bleiben wir jetzt ernst, wie singen wir jetzt weiter?

Termine

1 x im Monat = Neue Musik trifft Neue Poesie

13. April 10, 21 Uhr
Villa Elisabeth, Invalidenstr.3, Berlin
NIHILUM ALBUM
Eine Liedertafel mit Oswald Egger

9. März 10, 21 Uhr
Villa Elisabeth, Invalidenstr.3, Berlin
VARIATIONS SÉRIEUSES
Eine Liedertafel mit Ann Cotten, Mara Genschel, Sebastian Elikowski-Winkler, Christoph Herndler, Harald Muenz, Florian Neuner, Monika Rinck, Arne Sanders, Katia Tchemberdji, Asmus Trautsch, Ulrich Schlotmann

Dezember 09-Februar 09
Villa Elisabeth, Invalidenstr.3, Berlin
Arbeitstreffen für die VARIATIONS SÉRIEUSES

23. November 09, 21 Uhr
Villa Elisabeth, Invalidenstr.3, Berlin
DING DONG
Performance mit Hendrik Jackson, Gene Coleman und Audrey Chen

27. Oktober 2010, 21 Uhr
Institut für Kirchenmusik, Hardenbergstr.41
DIE FREUDEN DER JAGD
Lesung mit Ulrich Schlotmann

09

23.Juni – März 2010

VARIATIONS SÈRIEUSES
Auf zum Ausbruch aus den Reservaten. Erster Anlauf.

5. Mai
KIOSK KOSMOS
Eine Nacht lang Humboldts Kosmos. “Ein toller Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Grantifelsen, wissen, alles in Einem Werk darzustellen, und in einem Werk, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt.”

14. April
SOUND & SENSE. Händels Dinge

10. März
BARTHOLOMÄUS. Katia Tchemberdjis neues Oratorium

17. Februar.
KANON-KÜNSTE. Kritik & Cover

25. Januar
BURNS SUPPER

13. Januar
HÖLDERLINS RHYTHMUS. Boris Previsic im Gespräch