“Die musikalische Erregung kommt gerade daher, dass der Komponist in jedem Augenblick mehr oder weniger wegnimmt oder hinzufügt, als der Zuhörer erwartet, im Glauben an einen Plan, den er zu erraten meint, den er aber nicht zu durchschauen vermag aufgrund seiner Gebundenheit an eine doppelte Periodizität: an die seines Brustkorbes, die von seiner individuellen Natur, und die der Tonleiter, die von seiner Erziehung abhängt. Nimmt der Komponist mehr hinweg, so empfinden wir ein wunderbares Gefühl des Fallens; wir fühlen uns von einem festen Punkt des Tonsystems weggerissen und ins Leere geschleudert, aber nur deshalb, weil sich die Stütze, die uns geboten wurde, nicht an der erwarteten Stelle befand. Und nimmt der Komponist weniger hinweg, so tritt das Gegenteil ein: er zwingt uns zu einer kunstvolleren Gymnastik, als wir beherrschen. Bald sind wir bewegt, bald gezwungen, uns zu bewegen, und immer jenseits dessen, was wir, allein, zu leisten uns fähig glaubten. Das ästhetische Vergnügen besteht aus dieser Vielfalt von Erregungen und Aufschüben, von enttäuschten und belohnten Erwartungen, und jenseits der Erwartung, – ein Resultat der von dem Werk gestützten Herausforderung; und es besteht aus dem widersprüchlichen Gefühl, das sie einflößt, dass die Prüfungen, denen sie uns unterzieht, unüberwindbar sind, während sie uns gleichzeitig die wunderbar überraschenden Mittel bereitstellt, sie zu besiegen.”
Claude Lévi-Strauss: Ouverture, in Das Rohe und das Gekochte, Mythologica I
Übersetzt von E. Moldenhauer