Kontroverse zur frei improvisierten Musik

Ist die freie Improvisation am Ende?
Zur Vergangenheit und Gegenwart einer flüchtigen Kunstform in der Schweiz
Von Thomas Meyer
In dissonance 111, September 2010

Und der reactionsmeyer versammelt im Blogformat Reaktionen.

Zudem: Kontroverse zur frei improvisierten Musik auf dissonance.ch
Diskussionsmaterialien zur Situation einer freien Kunstform

Und: Vor 13 Jahren
Improvisierte Musik in der Schweiz, dissonance 22, Nov 1989
von Thomas Meyer

ernst jandl: das fanatische orchester

der dirigent hebt den stab
das orchester schwingt die instrumente

der dirigent öffnet die lippen
das orchester stimmt ein wutgeheul an

der dirigent klopft mit dem stab
das orchester zerdrischt die instrumente

der dirigent breitet die arme aus
das orchester flattert im raum

der dirigent senkt den kopf
das orchester wühlt im boden

der dirigent schwitzt
das orchester kämpft mit tosenden wassermassen

der dirigent blickt nach oben
das orchester rast gen himmel

der dirigent steht in flammen
das orchester bricht glühend zusammen

etwas machen, das die leute verstehen

was das wasser macht? und wie. was das gurkenwasser macht. und das wässerchen, was das nun wieder macht.

dunkel worden, gnu. kuppen. wie? nununu.

gurken auf dem flügel. wodka. kabel. schumann. das bedeutet frühlingsdüfte. unten fängts schon an zu blühn. zehn bis zwölf nebensonnen reißen die arme hoch. drehn sich. und den kopf unter wasser getaucht. zwieback jippie. homo ludens. der traum von mühelosigkeit. das realitätsprinzip zu leugnen, und wenn es nur für drei minuten ist. ein picknick auf den bühnenteilen. auf den podesten. hier lagern. den schal hinlegen. hier den zwieback. und taumelnd verfolgen die beteiligten den traum, hinter das realitätsprinzip zu schauen. üben. üben. üben. was ist das gegenteil von üben? nunja. losziehn. machen. faul sein? aber ist der faul der macht?

der traum, man träte auf die bühne, ungeübt brächte man die leute, völlig ungeübt, in die äußerste rührung, man würfe sie, und sie wären schwerelos. sie hätten alle kein gewicht, weil sie luftwesen der begeisterung, und das alles ungeübt, dann hochgeworfen und gefangen, jeden einzelnen, so also der traum. die pausen verschönern, in den pausen die ganze welt angehalten. und dann in die gurken, in den zwieback, in in in und aus aus aus. und wir schauen schon sehr drauf, dass wir die gurken nicht in den flügel kippen. wir müssen sehr sorgfältig sein und mit händen wie mit füßen aufpassen, auch nicht zu stolpern. aber tanzen und rufen. das geht.

komm raus und stell dich mir in den weg, bevor ich vergesse, warum ich hier bin,

femtosekunden in der das wasser die ihm zugeführte energie wieder preis gibt und sich zu anderen clustern macht.

retzinut. heiliger ernst.
mit der glühenden blässe die kinder beim spielen entwickeln.
unlust denken lernen. dann vergessen, was man gelernt hat.

das ist die zahl ihrer nichtwasserstoffnachbarn
komplexverbindungen von einem zeitraum von einigen billiardstel sekunden

(Zettel, beim Aufräumen gefunden, das war vor etwa einem Jahr)

musik

1

musik mit einer flasche und einem
schuh, saure rosen und staub aus der
achsel, eine akzeptierte lampe, kein
nebel aus brillen, und die runde
trophäe beim einstich in die hand

2

musik ist grün und was versteht man
darunter, was versteht man darüber und
was steht daneben, ein losgerissener rand,
ein abgefeiltes profil, zusammengeleimte
ratten, ein frosch als nadelkissen.

3

musik ist grün ist ein satz mit musik der
weniger allgemein akzeptiert werden wird
als zum beispiel der satz: musik ist
gründlich, der von vielen ohne weiteres
akzeptiert werden wird, die es nicht ohne
weiteres akzeptieren werden, dass musik
aus zusammengeleimten ratten besteht.
.
.
Ernst Jandl, aus: die bearbeitung der mütze. (9 . 74)

RATSCHLAG, DIE KIEFERN BETREFFEND

“Ein eintöniges Geräusch muss nicht unbedingt beruhigen. Eine Bohrmaschine beruhigt niemanden, außer vielleicht den Werkmeister. Dennoch sind es die monotonen Geräusche, in denen man noch am ehesten Ruhe finden kann.
Das Angenehme am Geräusch des Windes, der über einen Kiefernwald streicht, ist, dass dieses Rauschen keine Kante hat, es ist ganz rund. Aber es hat nichts Meergrünes an sich. (Oder besänftigt es vielleicht, weil es uns dazu verleitet, uns ein bedeutendes und sanftmütiges Wesen vorzustellen, das außerstande ist, völlig außer Rand und Band zu geraten?)
Allerdings sollte man nicht allzusehr auf die Spitzen der Kiefern schauen, wenn sie von starkem Wind gerüttelt werden. Denn wenn man sich vielleicht vorstellte, auf ihrem Wipfel zu sitzen, in einem solchen Schwanken, könnte man sich, und viel natürlicher, als wenn man sich auf einer Schaukel oder im Fahrstuhl befände, davongetragen fühlen, aufgrund dieser bizarren und prächtigen Bewegung dort oben, sich davongetragen fühlen und, obgleich man sich zwingt, nicht daran zu denken, ganz gewiss weit davon entfernt, über dieses Schwanken meditieren zu wollen, ist man ohne Unterlass damit beschäftigt, fühlt man sich noch immer im schwankenden Wipfel einer Kiefer, kann man nicht wieder hinabsteigen zur Erde.”

Henri Michaux, übersetzt von Ralf Pannowitsch

.. stimmen ohne stimme ..

“Es waren diese verführerischen Stimmen ohne Stimme, köstliches Säuseln, das bezaubert, bannt, die diejenigen bis zum Sterben verführten, die, unbefriedigt und doch in gewisser Hinsicht mit sich im Reinen, für dieses Abenteuer die rechte Seele hatten. Ich war verwirrt, meine Gefühle waren mehrfach geteilt. Und sie glitten weiter vorbei … und ich ließ sie vorbei. Was anderes tun? Manchmal wurde eine rauschende Wasserrakete über einem leichten Hindernis auf ganz natürliche Weise vage, perlmuttene Form, Phantom, das sich behende umdrehen würde, um mir, schon etwas bedeutsamer, sein leichtes f-ft, sein feuchtes Komm, komm zuzuwerfen, zwischen zahlreichen kleineren Rufen, halb resigniert, die nach allen Seiten sprühten. Endlich verließ ich die Stätte. Ich fragte mich: Wenn von weitem irgendein Schweizer mich beobachtet, zu dieser späten Stunde, was wird er denken?”

Henri Michaux, übersetzt von Helgard Rost